FAQs: Rechtliche Einordnung und Erfahrungswissen aus der Praxis
Erstellt in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Kepert und Stefanie Ulrich
Die Hilfe zur Erziehung gem. §§ 27 ff. SGB VIII und die Eingliederungshilfe gem. § 35a SGB VIII sind Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe. Es handelt sich um Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz, dem SGB VIII, § 2 Abs. 2 Nr. 4 und 5 SGB VIII. Ausgerichtet sind diese Leistungen an dem Dreieck „Eltern – Kind – Jugendamt/Freier Träger“. Das SGB VIII ist dabei grundsätzlich stark elternzentriert.
Beide Rechtsbereiche weisen strukturelle Gemeinsamkeiten, aber auch wichtige Unterschiede auf, sie schließen sich grundsätzlich aber nicht gegenseitig aus: Liegen die Bedarfe i.S.d. § 27 SGB VIII und des § 35a SGB VIII vor, sind beide Leistungen zu erbringen, s. hierzu § 35a Abs. 4 SGB VIII. Die jeweils vorliegenden Bedarfe sind insbesondere im Hilfeplanverfahren zu erörtern; festgeschrieben im § 36 Abs. 2 SGB VIII („Feststellung über den Bedarf und die notwendigen Leistungen“).
Die Leistungen erfolgen zur Verwirklichung des Rechts des jungen Menschen auf Förderung der Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (§ 1 Abs. 1 SGB VIII).
Die Leistungen können grundsätzlich nur auf freiwilliger Basis und aufgrund eines Antrag des materiell Anspruchsberechtigten und unter Berücksichtigung des Elterngrundrechts nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG geleistet werden.
Gegen den Willen der Personensorgeberechtigten kann die Hilfe nicht geleistet werden. Anders ist dies nur bei Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung. Durch familiengerichtliche Entscheidung kann den Personensorgeberechtigten gem. § 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB die Inanspruchnahme einer Hilfe auferlegt werden.
Hilfe zur Erziehung und Eingliederungshilfe lösen i.d.R. ein Hilfeplanverfahren aus. Dort wird festgelegt, welche Hilfe benötigt und passend ist – sich ändernde Hilfebedarfe können in diesem Verfahren prozesshaft betrachtet werden.
Hilfe zur Erziehung gem. §§ 27 ff. SGB VIII ist sehr stark am Elternrecht auf Pflege und Erziehung nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG orientiert. Anspruchsberechtigt sind daher die Personensorgeberechtigten (also im Regelfall Mutter und Vater), denn die Hilfe dient zur Behebung eines Erziehungsdefizits. Mit den Hilfen zur Erziehung sollen insbesondere die Eltern unterstützt werden, indem Kind und Eltern geholfen wird, sich wieder eigenverantwortlich um ihr Kind zu kümmern.
4.1 Welche Tatbestands- und Kerntatbestandsvoraussetzungen liegen den Hilfen zur Erziehung zugrunde?
Tatbestandsvoraussetzung für das Erhalten einer Hilfe zur Erziehung ist das Vorliegen eines (auch mündlichen oder konkludent gestellten) Antrags der Personensorgeberechtigten.
Kerntatbestandsvoraussetzung ist das Vorliegen eines Erziehungsdefizits im Sinne eines „doppelten Minus“: Ein Ausfall an Erziehungsleistung beim Personensorgeberechtigten (bei Vater und/oder bei der Mutter) muss kausal zu einer Mangellage beim Kind oder Jugendlichen führen. Zudem muss die jeweilige Hilfe (§§ 28 bis 35 SGB VIII bzw. in unbenannter Hilfeart) geeignet und erforderlich sein.
4.2 Was bedeutet eine „geeignet und erforderliche“ Hilfe?
Geeignet ist eine Hilfe, wenn sie objektiv tauglich ist die Zielerreichung zu fördern. Dies heißt, dass das Ziel nicht erreicht werden muss. Wenn die Möglichkeit besteht, dass Teilziele erreicht werden könnten, dann ist dies ausreichend für eine Bewilligung. Lediglich, wenn kein entwicklungsfähiges Potenzial vorliegt oder die Entwicklung über lange Zeit stagniert, kann die Geeignetheit in Frage gestellt werden.
Erforderlich ist eine Hilfe dann, wenn kein gleiches geeignetes milderes Mittel im Rahmen der Jugendhilfe vorliegt. Beachtet werden muss in diesem Zusammenhang zudem das Untermaßverbot. Notwendig ist die Hilfe zur Erziehung, die zur Bedarfsdeckung erforderlich ist. Es darf nicht eine weniger wirksame, aber kostengünstigere Hilfe geleistet werden (Verbot der Entscheidung nach Kassenlage). Der Staat ist demnach gefordert die Hilfe zu gewähren, die am passendsten für die Leistungsberechtigten ist. Es darf also nicht eine weniger wirkende Hilfe installiert werden, wenn diese günstiger ist.
Hinsichtlich der Feststellung der Geeignetheit und Erforderlichkeit kommt dem Jugendamt ein gerichtlich nicht voll überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Die Entscheidung über die geeignete und notwendige Hilfe ist das Ergebnis eines i.d.R im Rahmen des Hilfeplanverfahrens erfolgenden kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des Kindes/Jugendlichen, der Personensorgeberechtigten und mehrerer Fachkräfte.
Ein Wunsch- und Wahlrecht hinsichtlich der geeigneten und notwendigen Hilfe besteht nicht. Das Wunsch- und Wahlrecht zielt auf die Auswahl des Leistungserbringers durch die Leistungsberechtigten und auf die Ausgestaltung der Hilfe.
Eingliederungshilfe gem. § 35a SGB VIII dient einem besonderen behinderungsbedingten Bedarf, daher ist das behinderte oder von einer Behinderung bedrohte Kind oder der Jugendliche selbst (und nicht die Erziehungsberechtigten) anspruchsberechtigt.
5.1 Welche Tatbestands- und Kerntatbestandsvoraussetzungen liegen den Eingliederungshilfen zugrunde?
Kerntatbestandsvoraussetzung ist das Vorliegen einer seelischen Behinderung oder einer drohenden seelischen Behinderung. Die Hilfe dient zur Behebung einer damit verbundenen Teilhabebeeinträchtigung oder zur Verhinderung einer mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Teilhabebeeinträchtigung.
Tatbestandsvoraussetzung ist das Vorliegen eines (auch mündlichen oder konkludent gestellten) Antrags des Kindes/Jugendlichen ggf. in gesetzlicher Vertretung durch i.d.R. die Eltern (§ 36 SGB I). Ab Vollendung des 15. Lebensjahres kann der Antrag grds. durch den Jugendlichen selbst gestellt werden (§ 11 Abs. 1 Nr. 2 SGB X i.V.m. § 36 SGB I). Zuvor bedarf es mangels Handlungsfähigkeit einer Vertretung bei der Antragstellung.
5.2 Was verbirgt sich hinter dem Begriff der „seelischen Behinderung“?
Bei der seelischen Behinderung i.S.d. § 35a Abs. 1 SGB VIII handelt es sich um einen zweigliedrigen Behinderungsbegriff:
Zunächst muss die seelische Gesundheit des Kindes oder Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen (§ 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VIII).
Zur Feststellung eines solchen Befundes bedarf es einer Stellungnahme eines in § 35a Abs. 1a SGB VIII genannten Arztes bzw. Psychotherapeuten. Das Jugendamt ist an die Stellungnahme unter Wahrung des in § 20 SGB X enthaltenen Grundsatzes der freien Beweiswürdigung gebunden. Trotz der Vorlage eines solchen Befunds ist aber noch keine Behinderung im juristischen Sinne gegeben. Zusätzlich muss kausal infolge des Abweichens der seelischen Gesundheit eine Teilhabebeeinträchtigung vorliegen (§ 35a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII). Das Vorliegen einer solchen Beeinträchtigung muss seitens des Jugendamts geprüft und festgestellt werden.
Ausreichend für die Bewilligung eines Antrags ist dabei die Teilhabebeeinträchtigung in einem Lebensbereich (z.B. nur im schulischen Bereich). Erforderlich ist, dass bei dieser Beeinträchtigung eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschritten wird (z.B. Legasthenie alleine löst zwingend noch keinen jugendhilferechtlichen Anspruch nach § 35a SGB VIII aus. Allerdings kann Legasthenie zu einer Teilhabebeeinträchtigung beim Schulbesuch führen z.B. in Zusammenhang mit Schulabsentismus/Schulverweigerung, sodass die Tatbestandsvoraussetzung der Teilhabebeeinträchtigung gegeben ist. Dann besteht ein Rechtsanspruch auf Hilfe nach § 35a SGB VIII).
5.3 Wie wird festgestellt bzw. wie ist definiert, dass eine „seelische Behinderung i.S.e. mit hoher Wahrscheinlichkeit drohenden Teilhabebeeinträchtigung vorliegt“?
Alternativ zum Vorliegen einer seelischen Behinderung genügt für die Tatbestandserfüllung das Vorliegen einer drohenden seelischen Behinderung. Gem. § 35a Abs. 1 S. 2 SGB VIII ist dies bei einem Kind oder Jugendlichen gegeben, sofern eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Hierfür muss eine Teilhabebeeinträchtigung noch nicht vorliegen, sich aber abzeichnen. Auf Basis der ärztlichen Stellungnahme nach § 35a Abs.1a SGB VIII ist durch das Jugendamt prognostisch zu beurteilen, ob sich eine Teilhabebeeinträchtigung mit hoher Wahrscheinlichkeit in Zukunft abzeichnet (z.B. kann sich aufgrund einer festgestellten Legasthenie abzeichnen, dass ein Kind in naher Zukunft ohne jugendhilferechtliche Hilfeleistung die Schule verweigern oder den Halt in der Klassengemeinschaft verlieren könnte).
Gem. § 20 SGB X ist das Jugendamt gesetzlich zur Ermittlung der Tatbestandsvoraussetzungen verpflichtet. Auch besteht für den Anspruchsberechtigten gem. § 60 SGB I eine Mitwirkungsobliegenheit. Insbesondere sind alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistungsgewährung erheblich sind. Bleibt es trotz umfassender Amtsermittlung durch das Jugendamt unklar, ob die Tatbestandsvoraussetzungen gegeben sind, besteht kein Anspruch auf Leistungsbewilligung.
Hilfe zur Erziehung und Eingliederungshilfe sind trotz Überschneidungen (ein Abweichen der seelischen Gesundheit kann auch auf einem Erziehungsdefizit basieren) rein rechtlich klar voneinander abzugrenzende Leistungen.
Hilfe zur Erziehung | Eingliederungshilfe |
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Hilfe zur Erziehung basiert sehr stark auf dem Elterngrundrecht nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG und dient der Behebung eines Erziehungsdefizits mit dem Ziel der Förderung von Eltern und Kind. | Eingliederungshilfe basiert auf dem Gedanken der gleichberechtigten Teilhabe und dem Ziel eines Ausgleiches einer behinderungsbedingten Teilhabebeeinträchtigung. |
Die Leistung nach § 27 SGB VIII ist i.d.R. viel stärker auf den Willen der Eltern hinsichtlich einer Teilhabe des Kindes auszurichten. Bei Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG geht es auch um eine Entscheidung über Art und Weise der Teilhabe des Kindes. Das bedeutet, dass die Eltern eines Kindes im Rahmen des fremdnützig zum Wohle des Kindes wahrzunehmenden Elternrechts bestimmen können, in welchem Maße ein Kind am Leben in der Gesellschaft teilhaben soll. Eine weniger an Teilhabe orientierte Erziehung des Kindes kann daher auch aus einem entsprechenden Willen der Eltern resultieren, der grundsätzlich von der Jugendhilfe zu respektieren ist. Der Jugendhilfe kommt kein eigenständiger Erziehungsauftrag zu. | Bei § 35a SGB VIII geht es hingegen regelmäßig um die fehlende Fähigkeit des Kindes/Jugendlichen zur Teilhabe aufgrund des Abweichens von der seelischen Gesundheit. Das bedeutet, dass die Teilhabebeeinträchtigung des Kindes nicht auf einem entsprechenden Willen der Eltern beruht, sondern auf einem gesundheitlichen Problem des Kindes oder Jugendlichen. |
Eine Teilhabebeeinträchtigung aufgrund eines Erziehungsdefizits i.S.d. § 27 SGB VIII weist regelmäßig Unterschiede zur behinderungsbedingten Teilhabebeeinträchtigung i.S.d. § 35a SGB VIII auf. So können beispielsweise Schwierigkeiten eines Kindes Kontakt zu Mitschülerinnen und Schülern oder Lehrenden aufzubauen aufgrund einer fehlenden Erziehung durch die Eltern resultieren (z.B. weil die Eltern aufgrund eines Erziehungsausfalls i.S.d. § 27 SGB VIII dem Kind entsprechendes soziales Verhalten nicht vermitteln konnten) oder aber aufgrund eines Abweichens der seelischen Gesundheit (z.B. Autismus) i.S.d. § 35a SGB VIII eintreten.
Allerdings kann auch eine Teilhabebeeinträchtigung i.S.d. § 35a SGB VIII auf einem Erziehungsdefizit beruhen. Es kommt dann eine Gewährung von Hilfe zur Erziehung und Eingliederungshilfe in Betracht (s. hierzu auch § 35a Abs. 4 SGB VIII)
FAZIT
Schulische Beeinträchtigung lösen primär Eingliederungshilfen (Teilhabebeeinträchtigung an Schule) und keine Hilfen zur Erziehung aus. Siehe hierzu insbesondere BT-Drs. 12(3771, S. 40 (11.11.1992): „Einer seelischen Behinderung liegt nicht in jedem Fall ein erzieherisches Defizit zugrunde“.
Sofern die Teilhabebeeinträchtigung jedoch aus einem elterlichen Erziehungsdefizit resultiert, kann auch eine Hilfe zu Erziehung zu leisten sein. Voraussetzung hierfür ist es, dass die Teilhabebeeinträchtigung kausal durch einen Ausfall an Erziehungsleistung der Personensorgeberechtigten eintritt.
Das ist rechtlich möglich, wenn für beide Hilfen die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind: Vorliegen eines erzieherischen und eines behinderungsbedingten Bedarfs. In diesem Fall besteht ein Rechtsanspruch auf beide Hilfen.
Für die Antragstellung besteht kein besonderes Formerfordernis, d.h. dass der Antrag nicht schriftlich oder mittels Vordrucks gestellt werden muss. Ausreichend ist ein mündlicher Antrag. Die Antragstellung kann sogar durch schlüssiges bzw. konkludentes Handeln erfolgen. Letzteres ist der Fall, wenn der Anspruchsberechtigte durch nonverbales Verhalten zum Ausdruck bringt, dass er die Leistungen erhalten möchte.
Grundsätzlich setzt Eingliederungshilfe auf der Grundlage der in den §35a SGB VIII sowie §112 SGB IX verankerten Individualansprüche eine Antragstellung voraus, wobei das Antragserfordernis nur für Leistungen nach dem SGB IX in § 108 SGB IX normiert sind. Dennoch erfordert auch im SGB VIII die Leistungsgewährung mindestens eine qualifizierte Kenntnis auf Seiten des EGH-Trägers und das Einverständnis der gesetzl. Vertreter*innen der/des Leistungsberechtigten. Unabhängig davon besteht die Möglichkeit – als sogenannte Infrastrukturhilfen – einzelfallunabhängige Maßnahmen von Seiten der öffentlichen Träger zu installieren. Dies können bspw. Maßnahmen der Schulsozialarbeit über Gruppenangebote oder Klassen- / oder Stufenassistenzen sein.
Ein Anspruch nach § 35a SGB VIII (seelische Behinderung) oder auch nach § 112 SGB IX (körperliche und/oder geistige oder Mehrfachbehinderung) setzt immer auch eine medizinische Diagnostik hinsichtlich der Gesundheitsabweichung voraus, ebenso eine Teilhabediagnostik nach ICF-CY bzw. ICF mit Hilfe derer die Auswirkungen der Gesundheitsabweichung erfasst werden, um dann hierauf aufbauend eine Entscheidung zur geeigneten und erforderlichen, den Bedarf deckenden, Hilfe zu treffen ist.
Eine Schulbegleitung ohne dem widerspräche diesen Strukturprinzipien des Eingliederungshilferechts. Denkbar wäre sie dennoch als atypische Hilfe nach § 27 II 2 SGB VIII. Konstellationen könnten junge Menschen mit einer nicht für die Teilhabebeeinträchtigung kausalen Gesundheitsabweichung sein. Bspw. ein Kind, dessen seelische Störung zu keiner Teilhabebeeinträchtigung führt, welches jedoch aufgrund des Mobbings durch Mitschüler*innen in seiner Teilhabe erheblich beeinträchtigt ist. Zu beachten ist hierbei jedoch, dass auf der Grundlage des bio-psycho-sozialen Behinderungsbegriffs und mittels der ICF-CY (orientierten) Teilhabediagnostik Umweltbarrieren miteinzubeziehen sind. Denkbar wäre überdies eine infrastrukturelle Schulbegleitung.
Nein. Schule und Lehrer*innen sind nicht potenziell Leistungsberechtigte nach § 35a SGB VIII bzw. §112 SGB IX, sodass eine Antragstellung formal ausscheidet (vgl. § SGB I). Hingegen ist es zulässig und Praxis, dass zum Teil Lehrkräfte für Eltern oder ältere Schüler*innen Anträge (vor-)formulieren, die dann von diesen unterzeichnet und gestellt werden. Antragsberechtigt sind für minderjährige Kinder die gesetzl. Vertreter*innen, mithin Eltern oder Sorgeberechtigte. Jugendliche ab Vollendung des 15. Lebensjahres können nach § 36 I 1 SGB I selbst einen Antrag stellen.
Zu unterscheiden ist zunächst, ob es sich um einen Fall der ausschließlich körperlichen Behinderung oder einer Mehrfachbehinderung handelt. In ersterem Fall liegt die vorrangige sachliche Zuständigkeit bis zum Erlass eines weiteren, die große Lösung umsetzenden Bundesgesetzes, klar im SGB IX (vgl. § 10 IV 2 SGB VIII).
In der Konstellation einer Mehrfachbehinderung dürfte die vorrangige sachliche Zuständigkeit für eine Schulbegleitung ebenfalls im SGB IX liegen. Voraussetzung ist Kongruenz hinsichtlich Bedarf und begehrter Leistung. Dies ist der Fall, wenn die Schulbegleitung behinderungsbedingte Bedarfe aus beiden Behinderungsursachen heraus anspricht. Dies gilt unabhängig von der Gewichtung bzw. dem Schwerpunkt der Unterstützung. Das bedeutet auch dann, wenn sich der Bedarf ganz überwiegend aus nur einer Behinderungsart, bspw. der seelischen ergibt, aber auch zu einem kleinen Anteil Barrieren hinsichtlich einer bestehenden körperlichen Behinderung überwunden werden, liegt die Zuständigkeit im SGB IX. Es erfolgt mithin keine Abgrenzung nach Schwerpunktbehinderung oder Bedarfsschwerpunkt (vgl. BVerwG, 22.12.2009, Az. 5 C 19.08; LSG NRW, 10.10.2012, L 12 SO 621/10).
Grundsätzlich hebt die Beschulung auf einer besonderen Schulform nicht die nachrangige Zuständigkeit der Eingliederungshilfeträger auf. Auch ist davon auszugehen, dass im Rahmen einer solchen Beschulung auf die individuellen Bedarfslagen eingegangen wird. Bleiben dennoch Bedarfe ungedeckt, kommt auch weitergehend (bei Vorliegen der jeweiligen Leistungsvoraussetzungen) ein Anspruch auf Schulbegleitung in Betracht. Etwas Anderes kann allerdings gelten, wenn mit dem die Schüler*innen versorgenden freien Träger, der auch Träger der Schule sein kann, eine pauschale Abgeltung vereinbart wurde, sodass die Verpflichtung zur individuellen Schulbegleitung vertraglich auf den freien Träger übergegangen ist.
Diese Norm vermittelt einen Anspruch auf Hilfen zu einer angemessenen Schulausbildung und damit „die Schulbildung begleitende Maßnahmen“ (wird weit ausgelegt) und nicht die Schulbildung selbst (vgl. BSG, 15.11.2012, Az. B 8 SO 10/11 R; BVerwG, 18.10.2012, Az. 5 C 21/11). Die Rechtsprechung spricht hier vom Kernbereich pädagogischer Arbeit, der in der Alleinverantwortung von Schule liege. In Ausnahmefällen, dann wenn auch mit begleitenden Maßnahmen aus schwerwiegenden Gründen eine Beschulung im öffentlichen Schulsystem nicht zumutbar oder unmöglich erscheint, kann allerdings auch die Übernahme von Web-, Fern- oder Privatschulkosten Leistungsinhalt sein (vgl. BVerwG, 17.2.2015, Az. 5 B 61.14).
Nein, es können hiervon auch ergänzende therapeutische Unterstützungsmaßnahmen umfasst sein. Beispiele aus der Rechtsprechung sind Autismus-Therapie, Montessori-Therapie oder Petö-Therapie, die nicht am Ort der Beschulung stattfinden (vgl. hierzu Fuchs/Fritz/Rosenow, SGB IX, 7. Auflage, § 112 Rn. 22). Überdies können auch Fahrtkosten zur Schule, ebenso wie die Begleitung auf dem Schulweg umfasst sein.
Außerhalb des Kernbereichs pädagogischer Arbeit, mithin der originären Wissensvermittlung, welche in der Alleinverantwortung von Schule liegt- und zugegebener Maßen allerdings auch recht schnell erfüllt ist – besteht die nachrangige Zuständigkeit der Eingliederungshilfe nach SGB VIII und IX (bis zur großen Lösung je nach Behinderungsart). Diese nachrangige Zuständigkeit, auch „Ausfallbürgschaft“ genannt, greift immer dann, wenn das Recht auf inklusive Bildung nicht oder nicht in Gänze von Schule erfüllt wird. Bestehen also ungedeckte Bedarfe und liegen die jeweiligen Leistungsvoraussetzungen der Eingliederungshilfe vor, ist die Ausfallbürgschaft nicht begrenzt. Sie tritt lediglich dann zurück, wenn Schule ihrer Verantwortung nachkommt und Angebote, Unterstützung und begleitende Maßnahme zur Realisierung des Rechts auf inklusive Bildung aller jungen Menschen deckt. Fragen des Beschulungsorts, der Schulform oder Schulausstattung obliegen dabei den schulgesetzlichen Bestimmungen und dem politischen Diskurs.
Schule ist zunächst in landesgesetzlicher Gestaltungshoheit verortet, sodass auf die konkreten Inhalte des jeweiligen landesgesetzlichen Schulrechts abzustellen ist. Vor dem Hintergrund, dass – dem jeweiligen Bildungsauftrag folgend – der Auftrag von Schule in der Vermittlung von Wissen, Können, aber auch erzieherischer Werte besteht, sowie die Förderung von Verantwortung und Mündigkeit umfasst, erscheint eine Kooperation mit Eingliederungshilfeträgern systemimmanent angelegt zu sein. Dennoch besteht rechtlich wenig bis keine Verzahnung zwischen den sozialrechtlichen Vorschriften der Eingliederungshilfeträger und dem System Schule. Bundesrechtlich vorgesehen sind für Eingliederungshilfeträger die Einbeziehung weiterer Beteiligter im Hilfe- und Gesamtplanverfahren (vgl. § 36 III 1 SGB VIII, § 121 III Nr. 3 SGB IX). Eine rechtliche Durchsetzung dieser dort angelegten Kooperation im Einzelfall wie auch die darüberhinausgehende strukturelle Kooperation ist gesetzlich nicht abgebildet.
Zunächst stellt sich die Frage, wie eine solche Abweichung aussehen und wer diese vornehmen würde. Aufgabe des Eingliederungshilfeträgers ist es, im Rahmen des Verwaltungsverfahrens die Anspruchsvoraussetzung abzuprüfen, und den hierfür erforderlichen Sachverhalt zu ermitteln, um auf dieser Grundlage den Bedarf festzustellen. Kommen Leistungen der Teilhabe in Betracht ist für die Durchführung der Teilhabediagnostik eine Erhebung zur Teilhabesituation in Schule erforderlich. Dies wird üblicherweise mittels Schulbericht und Hospitation vorgenommen. Liegt kein Schulbericht vor oder ist damit erst nach mehreren Wochen zu rechnen, verstreichen die in §§ 14 f. SGB IX vorgesehenen Bescheidungsfristen. Auch erscheint ein Hinzuwarten auf den Schulbericht in vielen Konstellationen aufgrund der Dringlichkeit der Bedarfsdeckung und drohender Nachteile unzumutbar. Insofern ist seitens des Eingliederungshilfeträgers nötigenfalls auch ohne Schulbericht eine Leistungsentscheidung zu treffen. Vorläufige Leistungsentscheidung scheiden aufgrund gesetzlichen Ausschlusses in § 24 SGB IX und mangels fachgesetzlicher Abweichung aus.
Ein Anspruch nach § 35a SGB VIII setzt immer auch einen bestehenden, also ungedeckten Bedarf voraus. Decken die infrastrukturellen (einzelfallunabhängigen) Angebote alle Bedarfe, besteht kein Anspruch nach § 35a SGB VIII. Intensivieren sich Bedarfe und können diese nicht (mehr) infrastrukturell aufgefangen werden, dann besteht wiederum ein Anspruch auf eine Einzelfallhilfe, so die weiteren Leistungsvoraussetzungen vorliegen.
Die öffentliche Jugendhilfeträger ist mit der erheblichen Zunahme an Schulbegleitungen ebenfalls stark gefordert. Herausforderungen liegen nicht nur in der Vielzahl zu bewältigender Antragsverfahren, sondern zum Teil auch in den haushalterischen Auswirkungen. Auch wenn Jugendhilfe sich sicher nicht an fiskalischen Einwänden festmachen lassen darf, so werden in der Praxis dennoch fiskalische Argumente vorgebracht. Da aus verschiedenen Modellprojekten bekannt ist, dass Pooling-Modelle keine Sparmodelle sind, sollte der Versuchung wiederstanden werden dies als einzigen Einstieg zu wählen. Hingegen gibt es eine Vielzahl an fachlichen Gründen, weshalb eine hohe Anzahl an Einzelfallhilfen im Klassenverband wenig inklusionsfördernd wirken. Zudem können auf vorgenannte Gründe in der besseren Steuerung und Koordinierung der Einzelfallhilfen verwiesen werden.
Nach hiesiger Beratungserfahrung sind freie Träger grundsätzlich an einer Weiterentwicklung ihrer Angebote interessiert. Insbesondere dann, wenn bestehende Missstände in den Beschäftigungsverhältnissen der Schulbegleiter*innen (befriste Verträge, Kopplung der Arbeitszeit an die Betreuungszeit des Kindes, keine Finanzierung der Zeiten für Vor- und Nachbereitung bzw. Teamsitzungen) mitbetrachtet werden. Gerade in ländlichen Gebieten stellt die Reduktion der Stundenzahl im Einzelfall die begleitende Fachkraft und damit auch den freien Träger vor die Herausforderung, die nun frei gewordenen Stunden anderweitig aufzufüllen. Lösungsansätze bieten auch hier infrastrukturelle Angebote, bspw. Gruppenangebote am Nachmittag oder eben die gemeinsame rechtskreisübergreifende Leistungserbringung.
Die Beantwortung dieser Frage hängt stark von den Rahmenbedingungen und konkreten Herausforderungen vor Ort ab. Ganz grundsätzlich steht es jedem (öffentlichen wie freien) Träger sowie jeder Schule frei, sowohl im SGB VIII wie im SGB IX, , initiativ auf die weiteren Akteur*innen zuzugehen und einen fachlichen Diskurs zu bestehenden Herausforderungen und möglichen Pool-Konzeptionen zu führen. Dabei können bestehende „Schmerzpunkte“, wie bspw. hoher Kostendruck, wenig wirksame Hilfe, verfahrensmäßige und diagnostische Überlastung/hoher Verwaltungsaufwand, exkludierende Wirkung von Hilfen etc., als Motor für Veränderung genutzt werden. Ebenso gilt es, eine Vision von wirksamer inklusionsfördernder Schulbegleitung zu entwickeln, Mitstreiter*innen zu akquirieren und gemeinsam über erste Modellprojekte eine Sogwirkung zu generieren, die weitere Akteur*innen mitnimmt. So kann die Entwicklung von Pool-Modellen auch wesentlich zur Schulentwicklung – hin zur inklusiven Schule – beitragen.
Diese Frage kann schwer pauschal beantwortet werden, hängt die Ausführung von Pool-Modellen immer auch stark von den Rahmenbedingungen, gerade auch im System Schule ab. Auch werden unter dem Begriff Pool-Lösung in der Praxis sehr unterschiedliche Konzeptionen verstanden (vgl. Handbuch schulische Teilhabe). Dennoch kann festgestellt werden, dass Pooling grundsätzlich immer auch die Chance eröffnet, von exkludierenden Effekten durch eine hohe Zahl an einzeln wirkenden (erwachsenen) Schulbegleiter*innen im Klassenverband abzurücken. Stattdessen forcieren Pool-Modelle die (auch rechtskreisübergreifende) Abstimmung der Einzelhilfen und damit verbunden die essentielle Rollenklärung. Gleichzeitig besteht je nach Pool-Modell die Möglichkeit, durch Verselbstständigungsprozesse freiwerdende Kapazitäten sinn- und wirkungsvoll in den Pool einfließen zu lassen. Ist die Pool-Ausführung einzelfallunabhängig entfällt ein erhebliches Maß an Verwaltungsaufwand für die öffentlichen Träger, da das Verwaltungsverfahren, einschließlich Diagnostik entfallen oder vom freien Träger übernommen werden.
Grundsätzlich sind die Hilfen für junge Menschen mit Behinderung bis zur im Jahr 2028 avisierten Zusammenführung noch in unterschiedlichen Rechtskreisen verortet. Demzufolge sind auch nach beiden Rechtskreisen Leistungs-, Qualitäts- und Entgeltvereinbarungen mit dem jeweils hierfür zuständigen Träger abzuschließen. Inhaltlich weichen dabei die vereinbarten Inhalte, fachlichen Vorgaben und Entgeltsätze voneinander ab. Im Zuge der Verhandlungen können jedoch Angleichung bis hin zur Gleichsetzung vorgenommen werden. So wird vielfach das Fachkräftegebot im SGB VIII angeführt, welches jedoch auch im SGB IX besteht (vgl. § 97 SGB IX). Herausforderungen bestehen bei landesgesetzlich verankerten und vom überörtlichen Träger verhandelten Rahmenverträgen.
Zunächst ist zu unterscheiden, ob sich diese Aussage auf die Erteilung einer Betriebserlaubnis bezieht oder auf Leistungsvereinbarungen.
Hinsichtlich der Betriebserlaubnis postuliert § 45 II 1 SGB VIII klar die Ausrichtung auf die Gewährleistung des Kindeswohls. Insofern kann eine solche Aussage nur so gedeutet werden, dass die konzeptionelle Ausrichtung auf die Versorgung von Kindern im Rechtskreis SGB VIII und IX der Gewährleistung des Kindeswohls entgegenstehe. Je nach Klient*innengruppe wäre dies zu eruieren, läge dann aber am Konzept und nicht an gesetzlichen Bestimmungen. Sollte es tatsächlich landesrechtliche Bestimmungen geben, die einen solchen Ausschluss rechtskreisübergreifende Angebote vorsehen, dürfte dies im Wiederspruch zu Bundesrecht (vgl. § 7 II SGB VIII und der UNBRK), mithin übergeordnetem Recht stehen und damit rechtswidrig sein.
Gleiches gilt, wenn es sich um ambulante Maßnahmen und damit um Leistungsinhalte, mithin Vertragsrecht handelt. Hier sind allerdings idR die Leistungsinhalte und -entgelte verschieden, sodass idR die Entwicklung eines rechtskreisübergreifenden Angebots, bspw. in Schule, eine diffizile Kalkulation oder ein Entgegenkommen des geringer vergütenden Trägers braucht.
Bis zum Vollzug der eigentlichen großen Lösung, mithin der Zusammenführung der beiden Eingliederungshilfen für junge Menschen im Bundesrecht, besteht das Erfordernis sowohl nach dem SGB VIII für seelisch behinderte junge Menschen wie auch nach dem SGB IX für geistig und/oder körperlich behinderte junge Menschen, Leistungs-, Qualitäts- und Entgeltvereinbarungen zu verhandeln und abzuschließen. Je nach Bundesland kann es sich hierbei um ein und denselben kommunalen Rehabilitationsträger handeln. Insbesondere dann, aber auch bei Trägerverschiedenheit, besteht vertragsrechtlich die Möglichkeit, die Inhalte – mithin Leistung, Qualität und Entgelt – einheitlich zu vereinbaren. Dies kann in einem Vertrag, den beide Träger unterzeichnen geschehen. Ebenso können mehrere Verträge mit gleichen Standards einzeln mit den Trägern verhandelt werden.
Die Besetzung einer Projektgruppe hängt zunächst maßgeblich von den Rahmen- und Ausgangsbedingungen wie auch der Größe der Kommunalverwaltung ab. Da der Umbau zur großen Lösung die Zusammenführung unterschiedlicher Rechtskreise bedeutet, sollten in jedem Fall Vertreter*innen beider Rechtskreise vertreten sein. Dabei gilt es, die unterschiedlichen Traditionen (SGB VIII = Schwerpunkt auf der Personenzentrierung, (vormals) SGB XII bzw IX = Schwerpunkt in der Sachbearbeitung) zu berücksichtigen und diese an die fachlichen Vorgaben des KJSG anzupassen. Dies beinhaltet auch die Betrachtung der Prozesse, wie Antragsverfahren und Hilfe-, Gesamtplan- und Teilhabeplanverfahren. Weitergehend ist neben dem schrittweisen Umbau zur großen Lösung bereits mit Inkrafttreten des KJSG deutlich die inklusive Ausrichtung im SGB VIII formuliert. Gerade dies erfordert konsequente Anpassungen in allen Aufgabenbereichen und deren jugendhilfeplanerische Implementierung.
Unter der Prämisse des Möglichen hat es sich in der Beratungspraxis eine Besetzung mit Fach- wie Führungskräften und Netzwerker:innen als hilfreich erwiesen:
- Fachkräfte des klassischen ASDs (HzE und Kindeswohl)
- Päd. Fachkräfte § 35a, Fachkräfte der Wirtschaftlichen Jugendhilfe
- Fachkräfte EGH SGB IX (pädagogisch wie auch aus der Sachbearbeitung)
- Leitungsebenen, inkl. Entscheidungsträger:innen
- Jugendhilfe- und Sozialplaner:innen
Da zumeist unterschiedliche Vorstellungen zur Teilhabe bestehen und sich die Bedarfsfeststellungsinstrumente ebenfalls unterscheiden, empfiehlt sich eine externe Moderation und Begleitung.
Grundsätzlich sieht das KJSG hinsichtlich der Zusammenführung der beiden Säulen der Eingliederungshilfe für junge Menschen einen abgestuften Zeitplan vor. Nach einer stärkeren Kooperation in Phase 1, bspw. mittels der Beteiligung des Jugendamtes am Gesamtplanverfahren (vgl. § 10a III SGB IX) und einer Betrachtung der strukturellen Zusammenführung und Begleitung und Unterstützung Leistungsberechtigter durch Verfahrenslots*innen (vgl. § 10b SGB VIII), folgt im Jahr 2028 die eigentliche Zusammenführung der Eingliederungshilfen im SGB VIII. Bis zu diesem Zeitpunkt bleibt es bei der Aufteilung der Eingliederungshilfe nach Behinderungsart in zwei verschiedenen Gesetzbüchern und damit verschiedenen Rechtsgrundlagen, auch wenn die Leistungsinhalte kongruent sind. Auch gibt es unterschiedliche Regelungen hinsichtlich örtlicher Zuständigkeit und Kostenheranziehung, wobei letztere konventionskonform anzupassen sein dürften. Vor dem Hintergrund dieser Aufteilung besteht dennoch bereits jetzt in vielen Bundesländern, nämlich bei kommunaler SGB IX-Trägerschaft, die Möglichkeit der organisatorischen Zusammenlegung. Auch können bereits jetzt Prozesse, Bedarfsfeststellungsinstrumente sowie die jeweiligen Teilhabeverständnisse abgeglichen und auf einheitliche Qualitätsstandards geeint werden. Eine einheitliche Zuständigkeit einer Fachkraft für Leistungen nach beiden SGBs dürfte jedoch, vor dem Hintergrund sehr unterschiedlicher Bedarfslagen und Regelungen, heraus- bis überfordernd sein.
Zunächst verwies und verweist §35a SGB VIII in seiner bisherigen Fassung umfassend ins SGB IX. § 35a III SGB VIII lautet: „Aufgabe und Ziele der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie Art und Form der Leistungen richten sich nach Kapitel 6 des Teils 1 des Neunten Buches sowie § 90 und den Kapiteln 3 bis 6 des Teils 2 des Neunten Buches, soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden und sich aus diesem Buch nichts anderes ergibt.“
Beim Vergleich des Leistungsrechts SGB VIII und SGB IX fällt auf, dass §§ 27 ff SGB VIII sich stark an den Hilfearten orientiert, während das SGB IX abstrakter nach Leistungsgruppen, mithin orientiert an Teilhabebereichen, ausgerichtet ist. Inhaltlich besteht jedoch Kongruenz, das heißt die Leistungsansprüche decken sich.
Im Hinblick auf die Umsetzung bzw. das Vorziehen der großen Lösung stellen sich neben rechtlichen vor allem auch organisatorische Herausforderungen. Neben Fragen der Verortung der SGB IX-Fallführung im ASD oder Fachteam oder eigenem Reha-Amt (krit.), sind die Prozesse und Instrumente der Bedarfsfeststellung, aber auch das zugrundeliegende Teilhabeverständnis anzupassen. Denn SGB VIII und IX beruhen auf sehr unterschiedlichen Rechtstraditionen, mit denen auch unterschiedliche Deutungen von Teilhabe und bestehenden Bedarfen einhergehen.
Während das SGB VIII geprägt ist vom Fürsorgewesen und der freien Wohlfahrt, in seinem Leistungsrecht überdies systemisch u. a. Eltern und Geschwister auch schon in den vergangenen Jahrzehnten einbezogen hat, sowie stark auf die Entwicklung hin zum selbstbestimmten selbstständigen Leben fokussiert ist, richtet das Behindertenrecht das Augenmerk auf den Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile nur des behinderten Menschen. Außerdem war es bis jüngst zum 31.12.2019 im SGB XII und damit im System der sozialen Sicherung verortet und wenn auch nicht rechtlich so doch oftmals von der Haltung der Sicherstellung des Existenzminimums, mithin der notwendigen Deckung aktueller Bedarfe geprägt.
Dennoch zeigen verschieden Modellprojekte und Beispiele vorgezogener großer Lösungen, dass eine Zusammenführung gelingen kann.
In § 27 III 3 SGB VIII heißt es: „Hilfe zur Erziehung umfasst insbesondere die Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen. Sie soll bei Bedarf Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen auch Maßnahmen nach § 13 einschließen. Die in der Schule oder Hochschule wegen des erzieherischen Bedarfs erforderliche Anleitung und Begleitung können als Gruppenangebote an Kinder oder Jugendliche gemeinsam erbracht werden, soweit dies dem Bedarf des Kindes oder Jugendlichen im Einzelfall entspricht.“
Die rechtliche Einordnung des neuen Satzes und dessen Verortung in der Schlüsselnorm des § 27 SGB VIII hat in der Fachwelt zunächst Irritation hervorgerufen. Nach mehrheitlicher Auffassung handelt es sich dabei jedoch nicht um einen neuen subjektiven Rechtsanspruch. Vielmehr wollte der Gesetzgeber klarstellen, dass die gemeinsame Leistungserbringung auch unabhängig von Behinderung im Kontext Schule und Hochschule möglich ist („kann“).
Die Beratungsplicht nach § 10a SGB VIII unterscheidet sich von anderen Beratungspflichten zunächst darin, dass sie zu einem sehr frühen Zeitpunkt ansetzt, nämlich nicht erst, wenn Leistungen nach dem SGB VIII schon gewährt werden. Vielmehr knüpft § 10a SGB VIII seinem Wortlaut nach an die Leistungsberechtigung an und weitet dies noch darauf aus, dass Leistungen nach § 2 II SGB VIII in Betracht kommen („erhalten sollen“). Die § 2 II SGB VIII benannten Leistungen sind umfassend und mit dem KJSG inklusiv zu erbringen (vgl. § 7 II SGB VIII). Spätestens damit ist klargestellt, dass auch Familien mit Kindern und/ oder Anspruchsberechtigung auf Elternseite im Rechtskreis SGB IX angesprochen sind. Zugleich besteht mit § 106 SGB IX eine nahezu inhaltsgleiche Beratungspflicht im SGB IX.
Hier gelten die ganz grundsätzlichen Vorgaben zum Umgang bei Bekanntwerden erheblicher Anhaltspunkte einer Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII. Dies gilt unabhängig von der Zuordnung der Schulbegleitung in den Rechtskreis SGB VIII oder IX. Der Schutzauftrag obliegt für alle jungen Menschen, egal ob mit oder ohne Behinderung und egal welcher Behinderungsart dem Jugendhilfeträger nach dem SGB VIII. Dabei stellt das KJSG klar, dass Kinderschutz inklusiv zu sein hat. § 8a IV SGB VIII regelt Folgendes:
(4) In Vereinbarungen mit den Trägern von Einrichtungen und Diensten, die Leistungen nach diesem Buch erbringen, ist sicherzustellen, dass
- 1. deren Fachkräfte bei Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte für die Gefährdung eines von ihnen betreuten Kindes oder Jugendlichen eine Gefährdungseinschätzung vornehmen,
- 2. bei der Gefährdungseinschätzung eine insoweit erfahrene Fachkraft beratend hinzugezogen wird sowie
- 3. die Erziehungsberechtigten sowie das Kind oder der Jugendliche in die Gefährdungseinschätzung einbezogen werden, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird.
In den Vereinbarungen sind die Kriterien für die Qualifikation der beratend hinzuzuziehenden insoweit erfahrenen Fachkraft zu regeln, die insbesondere auch den spezifischen Schutzbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen Rechnung tragen. Daneben ist in die Vereinbarungen insbesondere die Verpflichtung aufzunehmen, dass die Fachkräfte der Träger bei den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, wenn sie diese für erforderlich halten, und das Jugendamt informieren, falls die Gefährdung nicht anders abgewendet werden kann.